Lob des Fahrrads

Einer, der wie kein anderer das Fahrrad hochgelobt hat, war der Philosoph und Theologe Ivan Illich (1926-2002). Er ist in kleinem Kreise u.a. bekannt für seine Berechnung der Durchschnittsgeschwindigkeit verschiedener Verkehrsmittel. Und stellt dabei fest, dass das Fahrrad schneller ist als das Auto (1974). Seine naheliegende Logik: Alle Arbeitszeit, welcher aufgewendet wird, um sich das Auto leisten zu können, fließt in die Berechnung der Durchschnittsgeschwindigkeit ein. Er kam auf 6 km/h. Heute dürfte die Schnelligkeit deutlich höher sein. In einem FAZ-Blog wurde Illichs Berechnung “aktualisiert”. Erstaunlich: Das Auto ist heute zwar deutlich schneller, aber je nach Annahmen immer noch ein wenig langsamer als das Fahrrad.

Nachfolgender Text Illichs macht etwas ganz anderes. Es ist mehr ein auf physikalischer Grundlagen basiertes “Hohelied” auf das Fahrrad:

Das Narrenlob des Fahrrads

…“Vor einem Jahrhundert wurde das Kugellager erfunden. Es verringerte den Reibungskoeffizienten um das Tausendfache.“ … … „Das „Rad“, der Rollkörper – wohl die letzte der großen neolithischen Erfindungen – wurde schließlich nutzbar für die aus eigener Kraft getriebene Mobilität. Das Kugellager ist hier Symbol für einen endgültigen Bruch mit der Tradition und für die entgegen gesetzten Richtungen, in die Entwicklung führen kann.

Ohne Geräte kommt der Mensch recht gut zurecht. Er befördert ein Kilogramm seines Gewichts in 10 Minuten einen Kilometer weit und verausgabt dabei 0,75 Kalorien.

Der zu Fuß gehende Mensch ist thermodynamisch leistungsfähiger als jedes Motorfahrzeug und die meisten Tiere. Im Verhältnis zu seinem Gewicht leistet er mehr Bewegungsarbeit als die Ratte oder der Ochse und weniger als das Pferd oder der Stör. Mit diesem Maß an Leistung besiedelte der Mensch die Erde und machte seine Geschichte. In diesem Maß verbringen bäuerliche Gesellschaften weniger als 5 % und Nomaden weniger als 8 % ihres jeweiligen gesellschaftlichen Zeithaushalts im Verkehr außerhalb des Hauses oder Lagers.

Auf dem Fahrrad kann der Mensch sich drei- bis viermal schneller fortbewegen als der Fußgänger, doch er verbraucht dabei fünfmal weniger Energie. Auf flacher Straße bewegt er ein Gramm seines Gewichts einen Kilometer weit unter Verausgabung von nur 0,15 Kalorien.

Das Fahrrad ist der perfekte Apparat, der die metabolische Energie des Menschen befähigt, den Bewegungswiderstand zu überwinden. Mit diesem Gerät ausgestattet, übertrifft der Mensch nicht nur die Leistung aller Maschinen, sondern auch die aller Tiere.

… „Das Fahrrad benötigt auch wenig Raum. Achtzehn Fahrräder können auf der Fläche geparkt werden, die ein Auto beansprucht, dreißig Räder können auf dem Raum fahren, den ein einziges Automobil braucht.

Es werden zwei Fahrspuren einer gegebenen Breite benötigt, um 40 000 Menschen mit modernen Zügen innerhalb einer Stunde über eine Brücke zu befördern, vier um sie in Bussen zu fahren, zwölf um sie in Pkw zu befördern und wieder nur zwei, um auf Fahrrädern hinüberzuradeln.

Unter all diesen Fahrzeugen erlaubt nur das Fahrrad dem Menschen wirklich, von Tür zu Tür zu fahren, wann immer, und über den Weg, den er wählt. Der Radfahrer kann neue Ziele seiner Wahl erreichen, ohne daß sein Gefährt einen Raum zerstört, der besser dem Leben dienen könnte.

Fahrräder ermöglichen es dem Menschen, sich schneller fortzubewegen, ohne nennenswerte Mengen von knappem Raum, knapper Energie oder knapper Zeit zu beanspruchen. Er benötigt weniger Stunden pro Kilometer und reist doch mehr Kilometer im Jahr. Er kann den Nutzen technologischer Errungenschaften genießen, ohne die Pläne, die Energie oder den Raum anderer übermäßig zu beanspruchen. Er wird Herr seiner Bewegung, ohne die seiner Mitmenschen wesentlich zu beeinträchtigen. Sein neues Werkzeug schafft nur solche Bedürfnisse, die es auch befriedigen kann. Jede Steigerung der motorisierten Beschleunigung schafft neue Ansprüche an Raum und Zeit. Die Verwendung des Fahrrads beschränkt sich von selbst.

Kugellager und Pneu erlauben den Menschen, ein neues Verhältnis zwischen ihrem Lebensraum und ihrer Lebenszeit, zwischen ihrem Territorium und dem Rhythmus ihres Seins zu schaffen, ohne Raumzeit und biologisches Tempo voneinander zu reißen. Diese Vorteile des modernen, von eigener Kraft angetriebenen Verkehrs sind offensichtlich – aber sie werden weitgehend ignoriert. Das Kugellager steht immer mehr ausschließlich im Dienst der Maschine. Daß ein besserer Verkehr immer schneller rollt, wird zwar oft behauptet, jedoch nie bewiesen. Ein Grund hierfür ist wohl, dass die Beweisführung klar aufzeigen würde, für wie wenige heute schneller Verkehr besser ist. Das Gegenteil kann leicht bewiesen werden, wird heute noch zögernd hingenommen und wird wohl sehr bald offensichtlich sein.

Ivan Illich, 1973

Aus:  (Ivan Illich, Fortschrittsmythen, Rowohlt 1978); Textabschnitt leicht verkürzt übernommen aus der sog. Stadtredaktion (Heidelberg).